Christoph Schmid * ist ein Schachspieler, wie er durchschnittlicher nicht sein könnte. Er ist Ende vierzig, hat eine DWZ im unteren 1800er Bereich und spielt bei einem Kleinstadtverein mit rund 35 Mitgliedern an einem mittleren Brett in der Bezirksliga. Aber in einer Sache unterscheidet sich Schmid von den übrigen Denksportlern: Er hat heimlich über Jahre hinweg mit Computerunterstützung gespielt.
Hier geht es zu Teil 2 des Interviews.
Seit einiger Zeit nutze ich meine Anwesenheit auf Turnieren und Mannschaftskämpfen dazu, Schachspieler nach interessanten oder ungewöhnlichen Geschichten zu fragen, die sie selbst erlebt haben und bereit sind, mit den Lesern dieser Webseite zu teilen. Bei einer Gelegenheit trat Herr Schmid * an mich heran und erzählte mir seine (Schach-)Geschichte. "Ich habe jahrelang in Turnierpartien betrogen", fing er an. "Seit drei Jahren bin ich 'clean', aber davor habe ich permanent mit elektronischer Unterstützung gespielt. Heute schäme ich mich sehr dafür und würde gerne einmal erzählen, was in einem Cheater vorgeht und was seine Motive sein können."
Schachbundesliga.de: Herr Schmid, zunächst einmal herzlichen Dank, dass Sie sich für ein Interview zur Verfügung gestellt haben. Das ist ja nicht gerade selbstverständlich...
Schmid: Nein, sicherlich nicht und ich möchte Sie auch bitten, meinen Namen nicht zu nennen und auch nicht abzukürzen. Wie man an dem erst kürzlich bekannt gewordenen Fall des italienischen Schachspielers gesehen hat, läuft man als Cheater Gefahr, innerhalb kürzester Zeit weltweit in den Tages- und Onlinemedien zu landen, sogar in den ganz großen. Ich verstehe das und finde das auch richtig, möchte aber dennoch vermeiden, dass meine Arbeitskollegen oder meine Frau meinen Namen unter solchen Umständen auf der Webseite der New York Times lesen müssen (lacht).
Schachbundesliga.de: Ein Risiko, das Sie aber über Jahre hinweg bewusst in Kauf genommen haben. Hatten Sie keine Angst, aufzufliegen?
Schmid: Doch, sehr große sogar. Und einmal wäre es auch fast soweit gewesen. Wir trafen im Mannschaftspokal auf den Nachbarort und ich musste wegen Abwesenheit einiger Spitzenspieler am 1. Brett antreten. Mein Gegner war ein starker Spieler mit etwa 2000 DWZ und hatte mich in der Eröffnung mit einer trickreichen Zugfolge überlistet, weshalb ich häufiger elektronische Hilfe beanspruchte als sonst. In der Folge geriet ich in Zeitnot. Als ich noch etwa 3 Minuten auf der Uhr hatte, war eine taktisch komplizierte Stellung auf dem Brett, über die mein Gegner, der noch genügend Zeit hatte, länger nachdachte. Ich nutzte die Gelegenheit und rannte auf die Toilette, doch in der Hektik drehte ich versehentlich den Lautstärkepegel nach oben, als ich das Handy einschaltete. Beim Bootvorgang gab das Handy dann eine Tonfolge von sich - und in genau diesem Moment kam mein Gegner in die Toilette. Ich bekam einen furchtbaren Schreck, doch er schien das Piepen nicht gehört zu haben. Wie sich herausstellte, war er mir nachgelaufen um mir zu sagen, dass ich am Zug war, denn er wollte nicht "durch ein dringendes Bedürfnis gewinnen", wie er nach der Partie sagte. Ich schämte mich sehr angesichts dieser sportlichen Geste und steckte das Handy beim Zurücklaufen in den Turniersaal heimlich in meine Jacke, um es nicht mehr benutzen zu können.
Schachbundesliga.de: Wie endete die Partie?
Schmid: Noch ehe die Zeitnot vorüber war stellte ich eine Figur ein und gab sofort auf. Nicht ohne ein gewisses Gefühl der Erleichterung.
Schachbundesliga.de: Wie sind Sie beim Cheaten vorgegangen? Haben Sie immer ein Handy auf der Toilette benutzt?
Schmid: Zuerst nicht. Angefangen hatte ich vor ungefähr 10 Jahren mit - Notizzetteln. Analoges Cheating, könnte man sagen (lacht). Ich hatte damals noch kein Handy und hab mich auch lange gegen diese Dinger gewehrt. Statt dessen habe ich mich immer sehr gründlich auf meine möglichen Gegner vorbereitet und mir dann ein paar Eröffnungsvarianten, die ich zuhause mit Fritz analysiert hatte, auf kleine Zettel geschrieben, damit ich heimlich nachschauen konnte, falls sie aufs Brett kamen und ich mal wieder die genaue Zugfolge vergessen hatte.
Das war jedoch sehr mühselig und außerdem kamen die Varianten fast nie aufs Brett - entweder spielte der Gegner etwas völlig anderes, als ich erwartet hatte oder es saß mir überhaupt ein ganz anderer Spieler gegenüber, weil in der gegnerischen Mannschaft Leute fehlten. Zudem ist es in unteren Ligen schwierig, aussagekräftiges Partiematerial über die Spieler zu bekommen, da die meisten nur selten an Open oder überregionalen Meisterschaften teilnehmen.
Zu Weihnachten 2009 schenkte mir meine Tochter einen kleinen Pocket PC, ein Handheld oder wie man das nannte. Ich glaube, diese Dinger gibt es inzwischen gar nicht mehr. Das war im Grunde so etwas wie ein kleiner PC mit Windows Mobile drauf. Dazu gab es ein Schachprogramm, ich glaube es hieß "Fritz Mobile", damit ich auf Zugfahrten oder auf der Terrasse spielen könnte. Das Programm fand positionell manchmal sehr merkwürdige Züge, aber taktisch war es schon ziemlich stark. Da auch eine kleine Eröffnungsbibliothek mit dabei war, nahm ich für die nächste Turnierpartie den Pocket PC statt der Notizen mit, zunächst nur mit der Idee, in der Eröffnung keinen Schiffbruch zu erleiden. Aber das war im Grunde Selbstbetrug, denn wenn man so ein Ding mal in der Hand hat und gerade nicht genau weiß, was man ziehen soll, dann ist es einfach, einmal kurz auf "Analyse" zu tippen und sich ein paar Ideen anzeigen zu lassen.
Schachbundesliga.de: Wo haben Sie das Gerät versteckt? In der Hosentasche?
Schmid: Nein, dazu war es zu groß. Aber in der Toilette meines Vereins gab es unter dem Waschbecken so ein kleines Schränkchen, in dem die Putzfrau die Reinigungsmittel aufbewahrte. Dort hatte ich den Handheld immer versteckt, denn es war klar, dass niemand an dieser Stelle etwas suchen würde. Erst später dann, als ich mir ein Smartphone angeschafft hatte, steckte ich es in die Hosentasche. Manchmal sogar in den Schuh.
Schachbundesliga: Hatten Sie kein schlechtes Gewissen?
Schmid: Ehrlich gesagt nein. Zur damaligen Zeit hatte ich geradezu panische Angst zu verlieren. Das war schon in meiner Kindheit so und steigerte sich mit zunehmendem Alter immer mehr. Ich war schließlich so weit, dass ich vor Nervosität nicht mehr am Brett sitzenbleiben konnte, wenn mein Gegner am Zug war. Und mein Denken kreiste permanent nur um den einen Gedanken: Bloß nicht verlieren, bloß nicht verlieren und ich suchte in schlechten Stellungen schon nach möglichen Gründen für mein "Versagen", während ich in guten Positionen stetig mit mir rang, ob ich nicht "sicherheitshalber" Remis anbieten sollte. Insofern war ich meistens zu sehr auf mich selbst fixiert, um ein schlechtes Gewissen meinem Gegner gegenüber zu haben.
Schachbundesliga.de: Wie häufig haben Sie mit Computerunterstützung gespielt?
Schmid: Meinen Sie, wie häufig insgesamt, oder wie oft pro Partie?
Schachbundesliga.de: Beides.
Schmid: Anfangs nicht so häufig, weil ich noch nicht abschätzen konnte, ob mein Verhalten während der Partien nicht zu auffällig war und ich Angst hatte, erwischt zu werden. Aber als ich merkte, dass fast kein Risiko bestand, benutzte ich das Handy in fast jeder Turnierpartie mehrfach. Ich schätze, ich ging ungefähr nach jedem 3.-5. Zug aufs Klo.
Schachbundesliga: Wurde denn nie jemand misstrauisch, wenn Sie permanent auf die Toilette gingen?
Schmid: Da ich ein starker Raucher bin, fiel es nicht weiter auf, wenn ich permanent nach draußen ging, zumal ich Toilettenbesuch und Rauchen oft miteinander verband. Ich hatte die Handgriffe mit der Zeit soweit perfektioniert, dass es kaum eine Minute dauerte, um eine Stellung aufzurufen, das Programm den besten Zug suchen zu lassen und die Toilette wieder zu verlassen.
Schachbundesliga.de: Hat sich Ihre DWZ durch die Zuhilfenahme eines Schachprogramms verbessert?
Schmid: Ja, schon. Zwar wurde mein Positionsspiel dadurch nicht besser, aber taktisch entging mir kaum noch etwas. Einmal gewann ich eine wunderschöne Partie mit einem Damenopfer für gerade einmal Turm und 2 Bauern, das auf den ersten Blick absurd aussah. Doch mein Handy hatte korrekt vorausberechnet, dass ich meine Türme entlang der geöffneten h-Linie verdoppeln und den gegnerischen König mattsetzen konnte. Von da an hatte ich im Verein den Ruf eines "kleinen Tal", was ich sehr genoß. Aber das erhöhte gleichzeitig auch wieder den Druck, in den nächsten Partien wieder die Hilfe der Elektronik in Anspruch zu nehmen. Ich weiß, das klingt bescheuert, aber ich wollte meine Reputation nicht mit einem einzügigen Einsteller wieder ruinieren.
Schachbundesliga.de: Haben Sie auch Kameras, Morsecode oder sonstige, komplexere Hilfen verwendet?
Schmid: Nein, dazu war ich computertechnisch nicht versiert genug. Es gab für solch einen Aufwand ja auch keinen Grund. Man könnte sagen: Es "lief" zu reibungslos, als dass ich etwas hätte ändern müssen.
Lesen Sie in der 2. Folge, wie ein IM nach einer Niederlage gegen Schmid misstrauisch wurde, wie er schließlich aufflog und warum über seinen Fall nie etwas bekannt wurde.
* Name von der Redaktion geändert
Mehr zum Thema: Ein humoristischer Beitrag von Olaf Steffens zum Thema Cheating auf schach-welt.de: Kleines Morsen unter Freunden
Bildquellen:
© Štěpán Kápl / Fotolia.com
© nerthuz / Fotolia.com