Schachgeschichten (12) - Eine harte Lektion

Erstellt am: 06.10.2015

Ein Jahr nachdem ich beschloss, Schach professionell zu spielen, machte ich mir eine Liste mit meinen zehn schlimmsten Niederlagen. Sie waren allesamt sehr schmerzhaft und ich bestrafte mich auf viele verschiedene Arten dafür. Fast 10 Jahre später gibt es nicht mehr so viele Partien, die ich zu dieser Liste hinzufügen könnte. Vielleicht, weil ich mich so ans Verlieren gewöhnt habe, dass es mich nicht mehr wirklich stört. Oder vielleicht, weil meine Gefühle am Brett und während der Partien nicht mehr so intensiv sind. Wie auch immer, die Art und Weise, wie ich eine Partie bei der Jugend-WM in Eriwan 2006 verloren habe, werde ich sicherlich nie vergessen.

Das Turnier war meine letzte Chance, an einer internationalen Jugendmeisterschaft teilzunehmen und ich war dementsprechend hochmotiviert. Aber meine Gegner waren weitaus stärker, als ich es gewohnt war, was sich in der Tabelle niederschlug - ich machte nicht besonders viele Punkte. Aber endlich bekam ich die Gelegenheit, meine bevorzugte Eröffnung zu spielen, die ich im Vorfeld stundenlang analysiert und vorbereitet hatte und die es mir überhaupt erst ermöglicht hatte, mich für das Turnier zu qualifizieren.

Ich landete in einer grauenvollen Stellung und von da an begann mein Gegner, aktiv meine Konzentration zu stören. Er trug eine Baseballmütze, lehnte sich immer bis weit über die Hälfte des Brettes vor und verdeckte mir so die Sicht auf die Partie. Einmal während der Partie machte ich dasselbe, um seinen Kopf zu berühren, aber er bewegte seinen trotzdem keinen Millimeter nach hinten.

Im 68. Zug konnte ich Remis durch dreimalige Stellungswiederholung reklamieren. Der Schiedsrichter wurde gerufen und bedeutete mir, dass ich den Zug, mit dem ich reklamieren wollte, auf das Partieformular schreiben müsse. Aber ich schrieb versehentlich Kb5 anstelle des korrekten Kd5 - und gemäß der Regeln musste ich nun auch tatsächlich Kb5 ausführen, was nicht nur die Reklamation, sondern auch die Partie verdarb. Die ganze Situation fühlte sich schrecklich und ungerecht an und die Tatsache, dass der Schiedsrichter nur Armenisch sprach, verschlimmerte meinen Eindruck nur noch. Aber nachdem ich eine Viertelstunde diskutiert hatte, fügte ich mich in mein Schicksal.

Auf dem Weg zurück ins Hotel fühlte ich mich so elend, dass ich keine Einwände gehabt hätte, wenn mich ein Auto überfahren hätte. Es war mir alles egal. Ich wurde jedoch verschont und bekam so am kommenden Tag das erste Freilos meines Lebens. An diesem unfreiwilligen Ruhetag machte ich einen Ausflug - und wurde überfallen und ausgeraubt.

Erst jetzt, mit Abstand betrachtet, kann ich diese Niederlage in einem anderen Licht betrachten. Als es passierte, machte ich den Schiedsrichter, meinen Gegner, das Schiedsgericht und sogar den Freund, der mir bei der Eröffnungsvorbereitung geholfen hatte, dafür verantwortlich. Alle außer mir selbst. Dabei ist es ganz einfach: Ich, und nur ich, habe Kb5 anstelle von Kd5 auf das Partieformular geschrieben. Und das war eine Lektion fürs Leben.

Partie(n) zum Nachspielen: 
[Event "Wch U20"]
[Site "Yerevan"]
[Date "2006.10.14"]
[Round "11"]
[White "Alaverdyan, Gevorg"]
[Black "Smith, Axel"]
[Result "1-0"]
[ECO "C18"]
[WhiteElo "2202"]
[BlackElo "2215"]
[PlyCount "151"]
[EventDate "2006.10.03"]
[EventType "swiss"]
[EventRounds "13"]
[EventCountry "ARM"]
[Source "ChessBase"]
[SourceDate "2006.11.03"]

1. e4 e6 2. d4 d5 3. Nc3 Bb4 4. e5 c5 5. a3 cxd4 6. axb4 dxc3 7. Qg4 Ne7 8. Nf3
Qc7 9. Bd3 Nbc6 10. O-O Nxe5 11. Nxe5 Qxe5 12. Bf4 Qf6 13. Bg5 e5 14. Bxf6 Bxg4
15. Bxg7 cxb2 16. Rab1 Rg8 17. Bxe5 Bh3 18. Bg3 Bf5 19. Bb5+ Bd7 20. Be2 Bf5
21. Rxb2 Rc8 22. Re1 Kd7 23. Bb5+ Nc6 24. Rd1 Rcd8 25. Bh4 Be4 26. Bxd8 Rxg2+
27. Kf1 Rxh2 28. Ke2 Kxd8 29. Bxc6 bxc6 30. Ra1 Rh6 31. Rxa7 Ke8 32. Rc7 Re6
33. c3 h5 34. f3 Bg6+ 35. Kf2 Rf6 36. b5 cxb5 37. Rxb5 Kf8 38. Rc8+ Kg7 39.
Rxd5 h4 40. Rg5 h3 41. Rg3 h2 42. Kg2 Rxf3 43. Rxf3 Be4 44. Kxh2 Bxf3 45. Kg3
Bh1 46. c4 Kf6 47. Re8 Kg5 48. c5 Kf5 49. Re1 Ba8 50. Rf1+ Ke5 51. Re1+ Kd5 52.
Rc1 Bc6 53. Kf4 Bb5 54. Kf5 Bd7+ 55. Kf6 Bb5 56. Kxf7 Ba4 {Die Stellung ist
unentschieden laut Tablebases, weil es dem Weißen nicht gelingt, die schwarze
Blockade zu durchbrechen, ohne den c-Bauern zu verlieren.} 57. Ke7 Bb5 58. Kf6
Bc6 59. Kf5 Bd7+ 60. Kf4 Bb5 61. Ke3 Bc6 62. Rc2 Bb5 63. Rc3 Bc6 64. Kd2 Be8
65. Ke3 Bb5 66. Kd2 Be8 67. Kc2 Kc6 68. Kd2 Kb5 $4 {68...Kd5 ergibt ein Remis
durch dreimalige Stellungswiederholung (Zug 64, 66 und 68).} 69. Kd3 {Jetzt
ist es Matt in 31, laut Tablebases} Kc6 70. Kd4 Kc7 71. Rf3 Bh5 72. Rf6 Bg4 73.
c6 Kd8 74. Kc5 Ke8 75. Kd6 Bc8 76. Rh6 1-0

Axel Smith ist ein schwedischer IM, der als Trainer sehr erfolgreich ist. Er hat mit "Pump Up Your Rating" ein viel beachtetes und - nach Meinung der Redaktion - ausgezeichnetes Buch geschrieben, in dem Smith sehr genau analysiert, wie man seine Spielstärke auf methodische Weise signifikant verbessert. Smith wendete seine Lehre auch auf sich selbst an und es gelang ihm, innerhalb von 2 Jahren von 2093 auf 2458 ELO zu springen.
Smith ist darüber hinaus Herausgeber des schwedischen Schachmagazins "Tidskrift för Schack", das monatlich erscheint.



Über den Autor

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Marc Lang

Marc Lang ist bekannt für seine Blindschachveranstaltungen und hielt bis Dezember 2016 den Weltrekord im Blindsimultan gegen 46 Gegner, aufgestellt 2011 in Sontheim/Brenz, wo er heute lebt.