London Chess Classic, Runde 3: Berliner im Glück

Erstellt am: 07.12.2015
Anand gegen Carlsen bei der Zurich Chess Challenge 2015

In der dritten Runde der London Chess Classic war die Bestürzung der Zuschauer zu Beginn zunächst groß: In 3 der 5 Partien stand die als derzeit sicherste Remiswaffe geltende "Berliner Mauer" auf dem Brett, was auf Twitter zu Kommentaren wie etwa dem von Nigel Short führte, der trocken meinte, dass er sich für eine Weile in den Winterschlaf begeben würde, bis in den Partien wieder etwas los sei. Doch es sollte anders kommen...

Der erste "Berliner", der nicht in ausgetrockneten Remispfaden verlaufen würde, war Grischuk - Giri. Der Russe, der auch schon in den Runden zuvor mit seiner Bedenkzeiteinteilung auf Kriegsfuß stand, brachte das Kunststück fertig, an einer Stelle 1 Stunde und 3 Minuten(!) über einen Zug nachzudenken. Wenn man berücksichtigt, dass in London bis zum 40. Zug ohne Zeitbonus pro Zug gespielt wird, dann ist das ein riskantes Unterfangen und so sah es in der anschlieenden Pressekonferenz auch sein Gegner:

Ohne gegnerische Zeitnot könnte Schwarz einfach aufgeben… Er verpasste den Sieg, weil er 1 Stunde und 20 Minuten nachdachte – hätte er nur 1 Stunden und 10 Minuten überlegt, wären die zehn zusätzlichen Minuten entscheidend gewesen!

Dies ist die Position, für die Grischuk so viel Zeit verbrauchte:

Grischuk spielte nach über einer Stunde 20.f4, wonach Giri sehr schnell mit 20...Tad8? einen schweren Fehler beging. Richtig wäre 20...Thd8 gewesen. Grischuk hierzu: "Hätte ich gewusst, dass er so spielt, hätte ich schneller gezogen"


Der Unterschied zwischen dem Partiezug und 20...Thd8 liegt darin, dass nach 20.f4 Thd8! 21.Tfe1 Sd4 22.Kh1 Sxc2 möglich ist, denn nach 23.f5+ Ke7 24.f6+ Ke6! hängt nach 25.fxg7 der Th8 nicht. Giri musste daher nach 20...Tad8? 21.Tfe1 zunächst zu 21...g6 greifen, wonach Grischuk mit 22.Kf2 Sd4 23.c3 die Stellung komplett dominierte.

Doch als die Zeitkontrolle herannahte und Grischuks Uhr immer unerbittlicher gen Null heruntertickte - am Ende hatte er noch 17 Sekunden - versuchte es Giri mit ein paar kleveren ("billigen", Anish Giri) Tricks, von denen schließlich einer funktionierte und die Stellung wieder ins Gleichgewicht brachte:

Giri zog hier 33...a3!?, wonach Grischuk mit 34.bxa3? falsch reagierte. Nach dem korrekten 34.Tc7 Ke6 35.Sxa3 wäre Weiß auf der Siegerstraße gewesen.

Der Unterschied liegt darin, dass Schwarz nach sofortigen 34.Sxa3 Td3+ 35.Ke4 Txh3 36.Tc7+ mit Kf8! das wichtige Feld e6 für seinen Springer und damit Gegenspiel gegen f4 erhält. Grischuk versuchte es noch einige Zeit, den vollen Punkt herauszupressen, doch Giri verteidigte sich umsichtig und am Ende konnte Grischuk dem Dauerschach nicht mehr entgehen.

In Caruana - Nakamura, die ebenfalls mit der Berliner Mauer begann, sah es zunächst danach aus, als könnte Caruana der erste Weißsieg seiner Karriere gegen den Amerikaner gelingen. Nach 20 Zügen verfügte der Italiener über, wie es Yasser Seirawan treffend formulierte, einen Mehrbauern UND die Kompensation dafür. Doch in der Folge spielte Caruana offenbar nicht energisch genug, denn Nakamura gelang es, seine Figuren zu aktivieren, so dass sich der weiße Vorteil allmählich verflüchtigte und schließlich auch hier ein Remis durch Zugwiederholung aufs Brett kam.

Eines der Highlights der Runde war sicherlich die Neuauflage des letztjährigen WM-Finales Anand - Carlsen. Auch hier stand die Berliner Verteidigung auf dem Programm und auch hier hatte der Anziehende zunächst einigen Druck, doch Carlsen verteidigte sich umsichtig und bald war es Anand, der mit der etwas schlechteren Bauernstruktur in einem Endspiel mit beiderseits Turm und Leichtfigur ein wenig auf der Hut sein musste. Und just in dem Moment, als sich eine baldige Zugwiederholung abzeichnete, griff Anand mit dem seltsam anmutenden Zug 34.Te3? fehl.

Der Inder meinte hierzu: "Meine Stellung sah super aus, aber Schwarz steht sehr stabil, weswegen ich nach der genauesten Fortsetzung suchte… und natürlich fand ich problemlos einige richtig schlechte Züge, nach denen ich Verlust stand"

Carlsen hatte danach das Heft fest in der Hand, doch im 40. Zug griff er zu dem mysteriösen 40...Th8?!, das außer dem Weltmeister keiner so recht nachvollziehen konnte.

Nach Carlsens Fehler gelang es Anand, das Gleichgewicht wiederherzustellen, wonach die Partie in ein Turmendspiel mündete, das nicht mehr zu gewinnen war.

Dass es am Ende doch noch einen Sieger gab, lag an der Partie Vachier-Lagrave - Topalov. Der Bulgare, der schon in Runde 1 gegen Giri hinter sich greifen musste, scheint zum Pechvogel des Turniers zu werden und seine Chancen, als bislang Führender der Grand Chess Tour auch am Ende auf dem ersten Platz zu stehen dürften inzwischen nahe null angelangt sein.

Der Knackpunkt der Partie war nach übereinstimmender Aussage der Akteure der 22. Zug Topalovs:

Topalov zog hier 22...Df6?, wonach die weiße Dame mit 23.Db5! eindringt. In der Folge fällt der wichtige Bauer a5 und der Anziehende erhielt einen gefährlichen Freibauern


Nach dem korrekten 22...De7! wäre die Partie dagegen ungefähr ausgeglichen gewesen. In der Folge opferte Vachier-Lagrave seinen a-Freibauern für direkten Angriff auf den schwarzen König, den Topalov in Zeitnot nicht mehr parieren konnte. Mit diesem Sieg setzt sich der Franzose gemeinsam mit Giri an die Spitze des Feldes und ist plötzlich in die Reihe der Favoriten auf den Gesamtsieg in der Grand Chess Tour aufgestiegen.

Von allen Partien die wenigste Dramatik hatte schließlich die Begegnung des Lokalmatadors Michael Adams gegen Levon Aronian. In einem (diesmal "normalen") Spanier sah es zunächst so aus, als könnte der Armenier im Mittelspiel die Initiative übernehmen, doch Adams verteidigte sich sehr genau und am Ende löste sich die Spannung in ein völlig gleichstehendes Endspiel mit beiderseits Turm, Springer und 4 Bauern auf, wonach Remis vereinbart wurde.

Levon Aronian im Interview mit Jennifer Shahade

Der Schiedsrichter Albert Vasse, dem früher die Firma DGT gehörte

Der ganze Komplex ist nach wie vor brechend voll mit Schulkindern

 

Zwischenstand der London Chess Classic 2015 nach 3 von 9 Runden:

PlatzTitelNameELONationPunktePerformance
1GMVachier-Lagrave, Maxime2773FRA2.02935
1GMGiri, Anish2784NED2.02887
3GMGrischuk, Alexander2747RUS1.52793
3GMCaruana, Fabiano2787USA1.52805
3GMAnand, Viswanathan2796IND1.52786
3GMAdams, Michael2737ENG1.52789
3GMAronian, Levon2788ARM1.52773
3GMCarlsen, Magnus2834NOR1.52785
3GMNakamura, Hikaru2793USA1.52769
10GMTopalov, Veselin2803BUL0.52495

Vorläufiger Zwischenstand in der Grand Chess Tour 2015:

PlatzTitelNameELONationPunkte
1GMAnish Giri2793Netherlands24.5
2GMMaxime Vachier-Lagrave2744France23.5
3GMHikaru Nakamura2814USA21
4GMLevon Aronian2765Armenia20
5GMMagnus Carlsen2853Norway19
6GMVeselin Topalov2816Bulgaria18
7GMViswanathan Anand2816India17
8GMFabiano Caruana2808USA14
9GMAlexander Grischuk2771Russia13
10GMMichael Adams2737ENG5.0
11GMJon Ludvig Hammer2683Norway1
11GMWesley So2773USA1

Heute konmt es ab 16 Uhr Ortszeit (17 Uhr MEZ) zu folgenden Paarungen:

Carlsen - Adams
Giri - Aronian
Nakamura - Anand
Topalov -Caruana
Grischuk - Vachier-Lagrave

PGN Download: 
Partie(n) zum Nachspielen: 
[Event "London Chess Classic"]
[Site "chess24.com"]
[Date "2015.12.06"]
[Round "3.1"]
[White "Caruana, Fabiano"]
[Black "Nakamura, Hikaru"]
[Result "1/2-1/2"]
[WhiteElo "2787"]
[BlackElo "2793"]
[PlyCount "89"]
[EventDate "2015.??.??"]
[WhiteTeam "Vereinigte Staaten"]
[BlackTeam "Vereinigte Staaten"]
[WhiteTeamCountry "USA"]
[BlackTeamCountry "USA"]
[WhiteClock "0:47:54"]
[BlackClock "1:03:10"]

1. e4 e5 2. Nf3 Nc6 3. Bb5 Nf6 4. d3 Bc5 5. Bxc6 dxc6 6. Nbd2 Qe7 7. h3 O-O 8.
Nc4 Nd7 9. Qe2 b5 10. Ne3 Nb6 11. Nf5 Bxf5 12. exf5 Nd7 13. Nd2 Bb4 14. c3 Ba5
15. Ne4 b4 16. O-O Rfd8 17. cxb4 Bxb4 18. Be3 f6 19. Qc2 Nb6 20. a3 Bd6 21.
Qxc6 Qd7 22. Qxd7 Rxd7 23. Rfc1 Nd5 24. Bd2 Bf8 25. g3 a5 26. Kf1 a4 27. Ke2
Rb8 28. Rc2 Rb3 29. Rac1 Rd8 30. Nc3 Nxc3+ 31. Bxc3 Rd5 32. g4 c6 33. Rg1 h6
34. h4 Be7 35. Rg3 Kf7 36. Kd2 Bd6 37. Ke2 Bc5 38. g5 Bd4 39. gxh6 gxh6 40. Rg6
Bxc3 41. bxc3 h5 42. Rh6 Kg7 43. Rg6+ Kf7 44. Rh6 Kg7 45. Rg6+ 1/2-1/2

[Event "London Chess Classic"]
[Site "chess24.com"]
[Date "2015.12.06"]
[Round "3.2"]
[White "Grischuk, Alexander"]
[Black "Giri, Anish"]
[Result "1/2-1/2"]
[WhiteElo "2747"]
[BlackElo "2784"]
[PlyCount "93"]
[EventDate "2015.??.??"]
[WhiteTeam "Russland"]
[BlackTeam "Niederlande"]
[WhiteTeamCountry "RUS"]
[BlackTeamCountry "NED"]
[WhiteClock "0:49:06"]
[BlackClock "1:04:45"]

1. e4 e5 2. Nf3 Nc6 3. Bb5 Nf6 4. O-O Nxe4 5. d4 Nd6 6. Bxc6 dxc6 7. dxe5 Nf5
8. Qxd8+ Kxd8 9. h3 Ke8 10. Nc3 h5 11. Ne2 b6 12. Bg5 c5 13. Nc3 Bb7 14. Rad1
Bxf3 15. gxf3 c6 16. Ne4 Be7 17. f4 Bxg5 18. fxg5 Ke7 19. Nd6 Ke6 20. f4 Rad8
21. Rfe1 g6 22. Kf2 Nd4 23. c3 Nf5 24. Kf3 Ng7 25. Rd2 Ke7 26. Red1 Rhg8 27. a4
a6 28. Nc4 Rxd2 29. Rxd2 b5 30. Na5 Rc8 31. Rd6 bxa4 32. Rxc6 Rd8 33. Nc4 a3
34. bxa3 Rd3+ 35. Ke4 Rxc3 36. Nd6 Rxa3 37. Rc7+ Ke6 38. Rxf7 Ne8 39. Rf8 Nxd6+
40. exd6 Ra4+ 41. Ke3 Kxd6 42. Rf6+ Kd5 43. f5 Ra3+ 44. Kf4 Ra4+ 45. Ke3 Ra3+
46. Kf4 Ra4+ 47. Ke3 1/2-1/2

[Event "London Chess Classic"]
[Site "chess24.com"]
[Date "2015.12.06"]
[Round "3.3"]
[White "Adams, Michael"]
[Black "Aronian, Levon"]
[Result "1/2-1/2"]
[WhiteElo "2737"]
[BlackElo "2788"]
[PlyCount "68"]
[EventDate "2015.??.??"]
[WhiteTeam "England"]
[BlackTeam "Armenien"]
[WhiteTeamCountry "ENG"]
[BlackTeamCountry "ARM"]
[WhiteClock "0:14:48"]
[BlackClock "0:46:56"]

1. e4 e5 2. Nf3 Nc6 3. Bb5 a6 4. Ba4 Nf6 5. O-O Be7 6. Re1 b5 7. Bb3 O-O 8. a4
b4 9. d4 d6 10. dxe5 dxe5 11. Qxd8 Rxd8 12. Nbd2 Bd6 13. a5 h6 14. Bc4 Re8 15.
Nb3 Be6 16. Bd3 Red8 17. Nfd2 Nd7 18. Nc4 Nc5 19. Nxc5 Bxc5 20. Be3 Bxe3 21.
Nxe3 b3 22. Bf1 Nd4 23. cxb3 Nxb3 24. Ra3 Rd2 25. Re2 Rxe2 26. Bxe2 Nd4 27. Bf1
Kf8 28. Rc3 Rb8 29. Rxc7 Rxb2 30. h4 Ra2 31. Bxa6 Rxa5 32. Bc8 Ra8 33. Bxe6
Nxe6 34. Rc2 h5 1/2-1/2

[Event "London Chess Classic"]
[Site "chess24.com"]
[Date "2015.12.06"]
[Round "3.4"]
[White "Anand, Viswanathan"]
[Black "Carlsen, Magnus"]
[Result "1/2-1/2"]
[WhiteElo "2796"]
[BlackElo "2834"]
[PlyCount "111"]
[EventDate "2015.??.??"]
[WhiteTeam "Indien"]
[BlackTeam "Norwegen"]
[WhiteTeamCountry "IND"]
[BlackTeamCountry "NOR"]
[WhiteClock "0:42:21"]
[BlackClock "0:18:26"]

1. e4 e5 2. Nf3 Nc6 3. Bb5 Nf6 4. O-O Nxe4 5. d4 Nd6 6. Bxc6 dxc6 7. dxe5 Nf5
8. Qxd8+ Kxd8 9. Nc3 Ke8 10. h3 Be6 11. Rd1 Bc5 12. g4 Ne7 13. Ng5 Bd5 14. Nge4
Bb6 15. Kg2 Rd8 16. Bf4 Ng6 17. Bg3 h5 18. f4 hxg4 19. hxg4 Ke7 20. Rh1 Bd4 21.
Nxd5+ cxd5 22. Nc3 Bxc3 23. bxc3 Kd7 24. f5 Ne7 25. Rae1 Rde8 26. Kf3 Rxh1 27.
Rxh1 Nc6 28. Re1 g5 29. a4 a6 30. Kg2 Kc8 31. Kf2 b6 32. Kf3 Kd7 33. Kf2 Kc8
34. Re3 Na5 35. Re1 Nc4 36. Kf3 Kd7 37. Kg2 a5 38. Kf2 c6 39. Kg2 b5 40. Rb1
Rh8 41. Bf2 Nxe5 42. axb5 Nxg4 43. bxc6+ Kxc6 44. Bd4 Re8 45. Kg3 Ne5 46. Rb6+
Kc7 47. Rf6 Kd7 48. Bxe5 Rxe5 49. Kg4 Ke7 50. Kxg5 Re1 51. Ra6 f6+ 52. Kg4 Rg1+
53. Kf4 Rf1+ 54. Kg4 Rg1+ 55. Kf4 Rf1+ 56. Kg4 1/2-1/2

[Event "London Chess Classic"]
[Site "chess24.com"]
[Date "2015.12.06"]
[Round "3.5"]
[White "Vachier-Lagrave, Maxime"]
[Black "Topalov, Veselin"]
[Result "1-0"]
[WhiteElo "2773"]
[BlackElo "2803"]
[PlyCount "75"]
[EventDate "2015.??.??"]
[WhiteTeam "Frankreich"]
[BlackTeam "Bulgarien"]
[WhiteTeamCountry "FRA"]
[BlackTeamCountry "BUL"]
[WhiteClock "0:16:43"]
[BlackClock "0:00:30"]

1. e4 c5 2. Nf3 d6 3. d4 cxd4 4. Nxd4 Nf6 5. Nc3 a6 6. h3 e5 7. Nde2 h5 8. g3
Nbd7 9. Bg2 b5 10. Nd5 Nxd5 11. Qxd5 Rb8 12. Be3 Be7 13. Qd2 Nf6 14. O-O O-O
15. Kh2 Bb7 16. Nc3 Rc8 17. a4 b4 18. Nd5 Nxd5 19. exd5 a5 20. Qe2 Bg5 21. Bxg5
Qxg5 22. h4 Qf6 23. Qb5 Qe7 24. Qxa5 Rxc2 25. Rac1 Rxb2 26. Rb1 Ra2 27. Qxb4
Ba6 28. Qb3 Bxf1 29. Qxa2 Bxg2 30. Kxg2 Ra8 31. a5 e4 32. Rb3 f5 33. Qd2 Qc7
34. Qb2 Rxa5 35. Rb7 Ra2 36. Qb5 Rxf2+ 37. Kxf2 Qc2+ 38. Qe2 1-0


Über den Autor

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Marc Lang

Marc Lang ist bekannt für seine Blindschachveranstaltungen und hielt bis Dezember 2016 den Weltrekord im Blindsimultan gegen 46 Gegner, aufgestellt 2011 in Sontheim/Brenz, wo er heute lebt.