Die Zweitliga-Mannschaft des Aachener SV hatte weder geplant noch erwartet, in die Schachbundesliga aufzusteigen. Als Mitte 2019 tatsächlich der Sprung ins Oberhaus gelang, war für die reine Amateurmannschaft klar, dass sie dieses Abenteuer unbedingt angehen und genießen will. Jetzt bekommen die Aachener sogar noch ein Sahnehäubchen serviert: Beim Meisterschaftsturnier ab Mittwoch wird die Vertretung aus dem Dreiländereck sich einmal mehr den Vergleichen mit fast übermächtiger Konkurrenz stellen. Die härtesten Brocken erwarten am Spitzenbrett Christian Seel. "Gegen Mamedyarov würde ich sehr gerne spielen", sagt die Aachener Nummer eins im Gespräch mit Conrad Schormann. "Und ich hoffe, dass Fabiano Caruana dabei ist."
Christian, am ersten Brett in der stärksten Liga der Welt bekommst du eine Granate nach der anderen vorgesetzt. Und doch ragt wahrscheinlich ein Gegner wie Viswanathan Anand noch einmal heraus. Auf den hast du dich vor einem halben Jahr vergeblich vorbereitet. Die Bundesliga hat damals kurzfristig den Spieltag abgesagt.
Das war ärgerlich, einerseits. Andererseits hatte die Pandemie Deutschland voll erreicht, und ich hatte in der Woche zuvor schon damit gerechnet, dass der Spieltag nicht stattfindet. Natürlich war ich enttäuscht, nicht gegen Anand zu spielen, aber ich wäre an diesem Wochenende mit einem sehr unguten Gefühl nach Viernheim gefahren. Insofern war es nicht ganz so schlimm.
Ihr geht in der Bundesliga als krasser Außenseiter ins Rennen, die einzige reine Amateurmannschaft. Habt ihr euch vor der Saison Chancen auf den Klassenerhalt ausgerechnet? Geht’s euch um die Gelegenheit? Was ist die Attitüde der Aachener Mannschaft?
Wir wären in den beiden Jahren zuvor beinahe aus der zweiten Liga abgestiegen. Dann sind wir in der Saison 2018/19 nach einigen knappen Siegen ziemlich unerwartet aufgestiegen. Es war eigentlich sofort klar, dass wir diese Chance wahrnehmen wollen – als Mannschaft, die nach dem Aufstieg zusammenbleibt. Dass wir in dieser Besetzung wahrscheinlich Letzter werden und absteigen, war auch jedem klar.
Es zählt die Chance, richtig gute Leute ans Brett zu bekommen?
Nicht nur. Neben der Herausforderung für jeden Einzelnen geht es um die Gemeinschaft. Wir treffen uns als Mannschaft am Wochenende, oft reisen wir gemeinsam an, gehen zusammen essen, unternehmen etwas. Legionäre oder Neuzugänge haben wir ja nicht, unsere Leute kennen und schätzen einander teilweise seit Jahrzehnten als Vereinskollegen. Das gilt auch für unsere Belgier und Holländer. Aachen liegt im Dreiländereck, wir wohnen alle nahe beieinander.
Nominell bist du der Beste in Aachen, aber nicht mit Abstand. Musstest du ums erste Bundesligabrett kämpfen?
Thomas Koch und ich sind ungefähr gleichstark. Als ich vor einigen Jahren nach Aachen kam, hatte Thomas eine schlechte Zweitligasaison am Spitzenbrett hinter sich – und war damit einverstanden, an Brett zwei zu spielen. Ich wollte gerne das Spitzenbrett und hatte wahrscheinlich auch etwas mehr Erfahrung mit Gegnern aus der 2600+-Kategorie. Ansonsten wollte niemand, deswegen gab es darüber nie eine Diskussion. Auch nicht nach dem Aufstieg in die Bundesliga.
Wie hast du die Saison 19/20 bis zum Abbruch erlebt?
Highlight war gleich zum Auftakt die Partie gegen Vitiugov. Remis gegen jemanden mit 2750, toll. Der Vergleich mit dem Meisterschaftsmitfavoriten Hockenheim war auch hinsichtlich der Mannschaftsleistung einer unserer besten Kämpfe. Tom Piceu hat David Howell geschlagen zum Beispiel, und bei uns kam das Gefühl auf, dass wir gegen etwas schlechtere Mannschaften vielleicht doch mal gewinnen können. Außerdem würde ich unsere Heimrunde hervorheben wollen. Alle Leute, die im Verein beteiligt sind, konnten sich einbringen, das war im Sinne des Vereins eine wunderbare Veranstaltung. An den Brettern haben wir bei dieser Gelegenheit ein wenig durchrotiert …
… und gleich mal einen 30 Jahre alten Rekord eingestellt, indem ihr mit Patrick-Robert Breitkopf-Lazar den jüngsten Bundesligaspieler jemals eingesetzt habt.
Patrick-Robert hatte im Jahr davor auch einmal gespielt und eine schöne Partie gewonnen. Also wollten wir ihm die Gelegenheit geben, er hatte sie sich verdient. Generell gilt bei uns: Jeder, der aufgestellt ist, spielt mindestens eine Partie.
Vor einigen Wochen zeichnete sich ab, dass es ein Meisterschaftsturnier geben wird. Ihr spielt mit, aber nicht um die Meisterschaft.
Ich habe immer ein wenig spekuliert, dass viele Teams aus dem unteren Mittelfeld nicht mitspielen, sodass es mit unserer Teilnahme klappen könnte. Für uns galt dasselbe wie in der regulären Saison: Wer spielt, zahlt seine Übernachtungskosten selbst, und der Verein gibt einen kleinen Fahrtkostenzuschuss. Anders geht es nicht als kleiner Verein. Trotzdem war eigentlich für jeden klar, dass wir die Chance wahrnehmen wollen, wenn sie sich ergibt. Für uns als Amateure lief nur die Planung ganz anders als für Teams, die ihre Profis irgendwie coronafrei aus Osteuropa nach Karlsruhe bekommen müssen. Bei unseren Spielern ging es eher darum, die Meisterschaftsrunde mit beruflichen oder familiären Verpflichtungen unter einen Hut zu bekommen.
Mittwoch geht’s los, was erwartest du?
Gegen Mamedyarov würde ich sehr gerne spielen. Und ich hoffe, dass Fabiano Caruana dabei ist. Er sei wohl in Deutschland, heißt es. Generell rechne ich damit, zwei, drei 2700ern zu begegnen, aber ich muss zugeben, dass ich mich noch gar nicht vorbereitet habe …
… wie auch? Es weiß ja keiner, wer spielt.
Man kann sich das eine oder andere zusammenreimen. Berlin zum Beispiel hat oben ein paar Leute gestrichen und unten welche nachgemeldet. Meine Kalkulation war, dass diejenigen spielen, die oben übriggeblieben sind. Trotzdem entfällt bei mir die intensive Vorbereitung, mir fehlen Zeit und Muße. Mittwochmittag, wenn die Aufstellungen bekannt sind, werde ich mich vor der Partie eine halbe Stunde hinsetzen, gucken, was mein Gegner spielt, und dann geht’s los.