Als Yu nach zwei Remisen in den klassischen und zwei weiteren in den Rapid-Partien im Tiebreak die erste 10-Minuten-Partie gewann, sah das nach einer Vorentscheidung aus. Aber Vitiugov mobilisierte alle Energie, überspielte seinen Widersacher in der zweiten 10-Minuten-Partie, und erkämpfte sich zwei Blitzpartien. Die endeten wieder remis, sodass die Armageddon-Partie das Match entscheiden sollte. Und in der waren noch keine zehn Züge gespielt, da hatte Vitiugov zwei Bauern mehr, und der König seines Gegners turnte im Freien herum.
Schon dieser Beginn, der eher nach Kreis- als nach Weltklasse aussah, war ausschließlich den Begleitumständen geschuldet: Druck und Erschöpfung am Ende des härtesten Turniers, das es beim Schach gibt. Mit diesen beiden Faktoren hängt auch zusammen, was danach geschah. Während Yu sich zusehends konsolidierte, sogar ein wenig Initiative aufbaute, entglitt dem Hockenheimer die Partie nach und nach bis zum endgültigen Kollaps.
Das Video eines am Boden zerstörten, fassungslosen Nikita Vitiugov kursierte tagelang durchs Internet, ein Zeugnis, in welchem Maße Emotion Teil unseres Spiels ist.
Blieb also noch MVL vom Deutschen Meister Baden-Baden. Der Franzose bekam es im Halbfinale mit dem Aseri Teimour Radjabov zu tun. Der einstige Wunderknabe ist heute in erster Linie für seine Remisquote von über 80 Prozent bekannt (gegen Landsleute nahe 100) – und dafür, dass er allenfalls noch semiprofessionell Schach spielt. Aber eben auch noch sehr gut und unverändert auf Augenhöhe mit den Allerbesten.
Ab dem 5. November in Hamburg kämpft MVL erneut ums Kandidatenturnier-Ticket
Dass MVL scheiterte, lag gleichwohl in erster Linie an einem Kurzschluss seinerseits, eine verfrühte Rochade in der zweiten klassischen Partie, in der er aus der Eröffnung heraus mit dem Rücken zur Wand stand. Lange verteidigte er seine Ruine mit aller ihm gegebenen Zähigkeit und taktischen Finesse, bis die Chance auf dem Brett stand, die Partie in ein schlechtes, aber haltbares Endspiel zu steuern. Das hätte gleichwohl eine weitere, stundenlange Massage bedeutet, und die wollte MVL sich nicht antun, sodass er lieber Material auf dem Brett hielt. Und das nutzte Radjabov, um letztlich doch unwiderstehlichen Druck auf die schwarze Bastion aufzubauen.
Nicht nur durchs französische Internet hallte sogleich ein gequälter Aufschrei. Man muss kein Franzose sein, um zu finden, dass Monsieur MVL nun endlich mal ein Kandidatenturnier beschert bekommen sollte. Qualifizieren muss er sich dafür allerdings selbst. Die World-Cup-Chance ist vertan, nach Elo wird es aller Voraussicht nach nicht reichen. Wir werden die Daumen drücken, wenn MVL ab dem 5. November beim Grand Prix in Hamburg darum kämpft, diese wahrscheinlich letzte Chance fürs Kandidatenturnier 2020 wahrzunehmen.